Auf einem meiner nächtlichen Ausflüge lernte ich Bruno kennen, den hübschesten Kater, den ich je gesehen habe. Das will natürlich nichts heißen, denn wie viele Kater habe ich in meinem noch jungen Leben schon kennengelernt? Aber schöner als die Streuner, wie Emma sie nannte, war er allemal. Und nicht nur, weil er ein gepflegtes, wohlriechendes Fell hatte. Nie zuvor hatte ich einen blaugrauen Kater mit silbernen Barthaaren gesehen, die lustvoll zu zittern begannen, wenn er mich anblickte. Und noch nie zuvor hatte ich einen Kater gesehen, der, wenn er die Augenlider halb über die bernsteinfarbenen Augen sinken ließ, in tiefste und aller tiefste Gedanken zu versinken schien, bei denen man ihn auf gar keinen Fall stören sollte, weil der Welt sonst eine lebenswichtige Erkenntnis zu entgehen drohte. So klug war Bruno. Und so weise. Durch Bruno habe ich das Wort „weise“ schätzen gelernt. Weise zu sein heißt mehr als nur klug zu sein. Ein Weiser kann sich auf die Welt und ihre Geschöpfe nicht nur einlassen, er kann sie bis in ihre kleinsten Regungen verstehen und richtig einordnen. Er weiß, was andere empfinden. Weisheit bedeutet, zu erkennen, was wichtig ist, und sich nicht über Unwichtiges aufzuregen, hat Emma gesagt. Leben und leben lassen. Lieben und lieben lassen. Genau so einer war Bruno. Eigenbrötlerisch und einzelgängerisch wie ich, wenn auch vermutlich aus anderen Gründen. Wir nahmen beide nicht an dem närrischen Treiben unten am Hof teil, sondern schauten uns alles ganz genau von oben herab an. Vielleicht waren wir beide etwas hochnäsig. Hochnäsigkeit ist keine besonders lobenswerte Eigenschaft, doch auch sie verband uns. Jedenfalls mochten wir uns auf Anhieb, obwohl er viel größer und älter war als ich. Oder vielleicht gerade deshalb. Ich hatte jedenfalls schon von Anfang an das Gefühl, als würden wir zur gleichen Sorte Katzen gehören.

Als wir uns zum allerersten Mal trafen, hatte ich es mir auf dem Sims unter dem zerbröckelten Schornstein der alten Bäckerei gemütlich gemacht. Ich beobachtete das Schauspiel unten im Hof, als er sich urplötzlich neben mich setzte, ohne dass ich ihn kommen gehört hätte. Erst schaute er mich nur an, dann senkte er den Kopf und beschnüffelte mich interessiert, aber nicht wirklich neugierig, von rechts nach links, von hinten nach vorn, von links nach rechts und wieder nach links, ohne auch nur einen einzigen missbilligenden oder anerkennenden Ton von sich zu geben. Offenbar wollte er einfach nur herausfinden, mit wem er es zu tun hatte. Ich habe es über mich ergehen lassen, nein, mehr als das, ich habe es genossen, nicht nur weil er größer und stärker war als ich. Ich roch sein duftendes Fell, spürte, wie seine blaugrauen Haare sanft über meine rötlichen Streifen strichen. Seine schwarze, etwas feuchte Nase war mir nicht unangenehm. Im Gegenteil. Bevor er sich wieder auf den Weg machte, dehnte und streckte er die Pfoten, wölbte den Rücken zu einem eleganten Bogen und rieb sich wieder an meinem karottenfarbigen Fell. Erst danach hörte ich zum ersten Mal seine Stimme, die erstaunlich tief und sehr freundlich klang: „Ich heiße Bruno. Falls du Hilfe brauchst, ruf mich einfach. Wann immer ich nur kann, werde ich kommen.“ Doch erst als er über die Dachziegel davonging, bemerkte ich, dass er etwas humpelte, sein rechtes Hinterbein war gekrümmt. Aber das leichte Humpeln machte ihn nicht hässlicher, eher interessant. Ich war glücklich und er war es wohl auch. Als ich später bei Emma im Bett lag, erzählte ich Kassandra in Gedanken von Bruno, meinem neuen Katzenfreund. Sie antwortete mir nicht, natürlich nicht. Aber ich genoss es zutiefst, von ihm zu erzählen und ihn in Gedanken vor mir zu sehen. Blaugrau mit silbernen Barthaaren und mit bernsteingelben Augen.

<Fortsetzung folgt heute>

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