Ich hockte also im Gras, ganz allein, und hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Es wurde immer dunkler und mit der Dunkelheit kam die Kälte. Der Mond ging unter, und als es schließlich Morgen wurde, beugte sich plötzlich eine ältere Menschenfrau über mich, hob mich hoch und gab mir einen Kuss, jenen wichtigen, lieben Kuss zur rechten Zeit, der nicht nur Kätzchen Angst und Leid erspart. Ich zitterte vor Kälte und sie zog ihre Strickjacke aus, wickelte sie behutsam um mich und trug mich zu ihrem Haus.

Es müssen an die zwei Jahre gewesen sein, die wir gemeinsam verbrachten, mein geliebtes Frauchen und ich, denn ich war inzwischen ausgewachsen und hatte auch ein kleines bisschen Fett auf die Rippen bekommen. Und die Stockrosen im Vorgarten hatten mindestens ein- oder zweimal im Sommer geblüht und ein- oder zweimal im Herbst ihre Blätter abgeworfen. Das Reiheneckhaus war inzwischen zu meinem Heim geworden. Es war kein besonders großes Haus, aber eigentlich viel zu groß für eine alte Frau mit ihrer Katze, ein bisschen kleiner hätte es auch getan. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und das Wohnzimmer, außerdem noch eine Speisekammer und eine Toilette, im ersten Stock ein Badezimmer, das Schlafzimmer und das Gästezimmer. Da Emma aber so gut wie nie Besuch hatte, jedenfalls nicht in der Zeit, wo wir beide in diesem Haus wohnten, hatte sie dort ihre Nähmaschine und das Bügelbrett hingestellt. Übrigens, mein Katzenklo war unten im Flur, in der Ecke direkt neben der Kellertür. Dieses Haus gehörte uns beiden allein. Wir hatten nur wirklich selten Besuch. Manchmal tauchte eine ehemalige Kollegin von ihr auf. Oder es kam der Postbote, der einmal in der Woche die Fernsehzeitung austeilte und dann oft eine Tasse Kaffee bei uns trank. Wir führten ein gutes Leben. Gleich nach dem Frühstück (Trockenfutter für mich, Müsli für mein Frauchen und heißen Kakao für uns beide) hatten wir uns bei gutem Wetter auf der überdachten Terrasse gemütlich gemacht. Schweigend beobachteten wir die zahlreichen Bienen, Hummeln und Schmetterlinge, die im Garten bei den Blumen herumschwirrten.

Manchmal, gerade dann wenn wir zusammen auf der Terrasse saßen, hatte ich das Gefühl, Emma würde mich auch ohne Worte verstehen. So wusste sie immer, bei jedem "Miau", dass ich etwas von ihr wollte. Dass ich hungrig war oder etwas zu erzählen hatte. Übrigens: Ich hatte schon nach einigen Wochen angefangen, sie Emma zu nennen. Sie hatte mich selbst darum gebeten, wahrscheinlich weil sie das Wort "Frauchen" in ihrem fortgeschrittenen Alter nicht nur unpassend fand, sondern geradezu albern. "Jeder hat das Recht auf seinen eigenen Namen, und mein Name ist Emma. Punkt." Diese Worte trafen offenbar eine große empfindliche Stelle in ihrem Inneren, jedenfalls hatte ich ihr von meiner Schwester erzählt, von der ich gerne einen Namen hätte, um sie wenigstens in Gedanken ansprechen zu können. "Ich kann sie nicht mal in Gedanken herbeirufen, weil sie keinen Namen hat", sagte ich. "Weißt du sicher nichts mehr von ihr?", fragte Emma erstaunt. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin mir noch nicht mal sicher, ob die Katze, die damals neben mir saß, meine Schwester war. Vermutlich schon, dachte ich. "Nein, tu es nicht!", hat sie gerufen, als ich meine Muskeln zum ersten Sprung meines Lebens anspannte. Nicht nur die Erinnerung an ihr Aussehen, auch an irgendetwas, was sie vielleicht sonst noch gesagt hat. Alles ist im Teich untergegangen und hat sich im Wasser aufgelöst. Emma schwieg eine Weile. Und erst als ich schon fürchtete, ihr wäre nichts eingefallen, sprach sie: "Nenn sie doch Kassandra. In der griechischen Mythologie war Kassandra eine große Seherin, auf die niemand hören wollte. Bis heute bezeichnet man Warnungen, die keiner glaubt als Kassandra-Rufe. Deine Schwester hatte offenbar eine prophetische Begabung, deshalb würde der Name gut zu ihr passen. Und du hast schließlich auch nicht auf sie gehört." Ab da nannte ich meine Schwester in Gedanken Kassandra. Aber irgendwie klappte das damals nicht richtig, egal wie oft ich es versuchte. Vielleicht brauchte sie einfach noch eine Weile sich an ihren Namen zu gewöhnen.

<Fortsetzung folgt morgen>

Kommentare (2)

Ganz schön lang😅

naja, aber cool schon.. weiter! :)